Brauns: Neubegründung von Staatsleistungen

Hans-Jochen Brauns erläutert die Auffassung der heutigen Staatskirchenrechtler, dass eine Neubegründung von Staatsleistungen zulässig sei. Diese Auffassung stehe allerdings im Widerspruch zu den Absichten der Verfassungsgeber, die eine endgültige finanzielle Trennung von Staat und Kirchen wollten. Durch die Ablösung dürfe allerdings nicht die Lebensfähigkeit der Kirchen in Frage gestellt werden.
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6. Zusammenfassung
Art. 138 I WRV gebraucht den Begriff „Ablösung“ gleichbedeutend mit Trennung. Daß die staatskirchenrechtliche Ablösung inhaltlich übereinstimmt mit der Ablösung des juristischen Sprachgebrauchs, beweist Entstehungsgeschichte und Sinnzusammenhang. Der staatskirchenrechtlichen Ablösungsforderung genügt daher allein eine abschließende einmalige Ausgleichsleistung, weil Ablösung im Sinne von Art. 1381 WRV die Aufhebung von Vermögenswerten, dauernden Leistungsbeziehungen gegen eine einmalige Ausgleichsleistung bedeutet.

III. Die Neubegründung von Staatsleistungen

Unvereinbar mit einem so verstandenen Ablösungsgebot erscheint auf den ersten Blick eine Neubegründung von Staatsleistungen: Ist Ablösung Trennung und Sinn des Ablösungsgebotes Auflösung der finanziellen Verbindungen von Staat und Kirchen, so ist es zumindest sinnwidrig, die Aufnahme der eben beseitigten Verbindungen jederzeit wieder zuzulassen.
Im Anschluß an die Untersuchung E. R. Hubers, nach dessen Ansicht die Aufnahme eines ausdrücklichen Verbotes durch das taktisch kluge Verhalten der Rechten und des Zentrums verhindert wurde , läßt heute die fast einhellige Lehre dennoch die Neubegründung von Staatsleistungen uneingeschränkt zu .
Unter Herrschaft der Weimarer Reichsverfassung war diese Frage allerdings noch umstritten: Von einer vollständigen und endgültigen finanziellen Trennung von Staat und Kirchen ging C. Israel aus . Vorwiegend aus der Entstehungsgeschichte, aber auch aus Sinn der Ablösungsbestimmung und den staatskirchenrechtlichen Grundsätzen des Art. 137 I und 137 III WRV entwickelte er das Verbot, künftighin öffentliche Mittel für religiöse Mittel aufzuwenden. Einmalige und dauernde Leistungen, Ermessenszuschüsse und Pflichtleistungen wären demnach verboten.
Mit dieser Ansicht ist Israel allein geblieben — jedoch nur im Hinblick auf den Umfang des Verbotes. In der praktischen Konsequenz folgte ihm weitgehend eine dritte Ansicht, die zwar Ermessenszuschüsse und einmalige Leistungen für zulässig, Staatsleistungen dagegen als Leistungen, die auf den Staat bindenden Rechtstiteln beruhen, für alle Zukunft für unzulässig hielt . Nach dieser Ansicht hätte sich die Forderung von SDP und DDP, keine öffentlichen Mittel mehr für religiöse Zwecke auf-zuwenden, weitgehend durchgesetzt .
Diese Ansicht begründet allerdings nicht, woraus sich genau ein solches Verbot ergibt: ob aus dem staatskirchenrechtlichen System, dem Sinn des Art. 1381 WRV oder aus dem Wortlaut der Ablösungsvorschrift selbst.
Ebensowenig wie die herrschende Lehre vermag daher auch diese Ansicht genau zu erklären, warum die Mehrheitsparteien der von Art. 1381 WRV geforderten Ablösung vorbehaltlos zustimmten, wenn „Ablösung“ nur die Aufhebung bisheriger Staatsleistungen gegen einmalige Entschädigung gebot, nicht aber das von den Mehrheitsparteien geforderte Verbot enthielt, künftighin öffentliche Mittel für religiöse Zwecke aufzuwenden. SPD und DDP stimmten Art. 138 I WRV und der Ablösung doch wohl deshalb zu, weil der Artikel ihren Forderungen gerecht wurde. Wenn also die Neubegründung von Staatsleistungen verboten sein sollte, so liegt es nahe, daß auch diese Aussage durch die Wahl des Begriffs „Ablösung“ normativiert werden sollte. Es fragt sich daher zunächst, ob der Verfas-sungsgeber mit der Ablösung mehr aussagen wollte, als bloß Aufhebung dauernder Leistungspflichten gegen einmalige Entschädigung und ob eine darüber hinausgehende, subjektiv gewollte Aussage auch von dem Wortlaut des Art. 138 I WRV gedeckt wird.

1. Kräfteverteilung und Stellungnahmen innerhalb der Nationalversammlung

Schutz gegen die entschädigungslose Entziehung der Staatsleistungen, die die Kirchen angesichts der kirchenfeindlichen Tendenzen in einigen Ländern befürchten mußten, versprachen allein reichsrechtliche Garantien . Schutz versprach das Reich deshalb, weil die Stimmenverhältnisse in der Nationalversammlung  kirchenfeindliche Alleingänge der Linken unmöglich machte.
Zentrum und Rechtsparteien, darauf bedacht, die Sonderstellung der Kirchen und die Verbindung von Staat und Kirchen im wesentlichen beizubehalten, regten eine endgültige Garantie der Staatsleistungen mit fakultativer Ablösungsmöglichkeit an . Demgegenüber verlangten die Sozialdemokraten, die Aufwendung öffentlicher Mittel für religiöse Zwecke zu verbieten . Die Forderung beinhaltete zweierlei: Bisher begründete Staatsleistungen sollten sofort und entschädigungslos eingestellt werden; in Zukunft durften keine neuen Mittel bereitgestellt werden.
Da für eine endgültige Garantie der Staatsleistungen in der Nationalversammlung keine Mehrheit zu finden war, mußten die kirchenfreundlichen Parteien den sozialdemokratischen Forderungen entgegenkommen, aber eine Regelung finden, die den Kirchen mindestens den Wert der für sie so wesentlichen bisherigen Staatsleistungen erhielt. Notwendigerweise mußten sie die in der sozialdemokratischen Forderung mitenthaltene Möglichkeit, bisherige Staatsleistungen entschädigungslos einzustellen, auszuschließen versuchen. Verglichen mit der finanziellen Bedeutung dieser Frage für die Kirchen besaß das darüber hinaus in der sozialdemokratischen Forderung enthaltene Verbot, neue Mittel für religiöse Zwecke aufzuwenden, nur geringe und untergeordnete Bedeutung für die Kir-chen  und damit auch für das Zentrum und die bürgerlichen Parteien .
Die Sozialdemokratie war bereit, den Wünschen der kirchenfreundlichen Parteien entgegenzukommen ; jedoch bezog sich die Kompromißbereitschaft nur auf das Wie, nicht aber auf das Ob der Verwirklichung ihrer Forderungen . Sie erkannte die Notwendigkeit an, die Kirchen für die aufzuhebenden Staatsleistungen zu entschädigen, da sonst die Lebensfähigkeit der Kirchen gefährdet worden wäre.
Aus dieser Kompromißbereitschaft entsprang der Antrag Meerfeld/ Naumann , der aus der Mitte der SPD und der DDP kam und dessen Wortlaut Art. 138, 1 WRV zugrundeliegt. Diesem Antrag stimmten sowohl Zentrum wie auch SPD, aber auch Deutschnationale und DDP zu. Alle Parteien sahen in der Formulierung ihre Forderung gewahrt. Es wäre nun allerdings erstaunlich, wenn die SPD einem Antrag, der sogar von einem ihrer in dieser Frage führenden Mitglieder mitformuliert war, zugestimmt hätte, ohne daß dieser ihrer grundsätzlich nicht aufgegebene Forderung — keine Aufwendung öffentlicher Mittel für religiöse Zwecke — genügt hätte, dagegen aber den Ansprüchen ihrer politischen Gegner in dieser Frage im wesentlichen entsprach. Dann hätten in der Tat Zentrum und Rechte in taktisch kluger Weise die Aufnahme eines solchen Verbotes in die Verfassung umgangen .
Nun hatte allerdings auch die SPD nicht die ausschlaggebende Mehrheit in der Nationalversammlung, so daß sie gezwungen gewesen sein könnte, ihre Forderung nicht nur in den Bedingungen der Durchführung, sondern auch im Grundsätzlichen zu modifizieren. Entscheidend war die Stellung der DDP unter Führung Naumanns zu dieser Frage. Doch auch deren Ziel war, Staat und Kirche für die Dauer finanziell zu trennen ; diese Trennung durfte nur nicht der finanziellen Leistungsfähigkeit der Kirchen schaden: Die bisherigen Staatsleistungen sollten nur gegen Entschädigung aufhebbar sein 95.
Jedenfalls für die Forderung nach einer grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche auf finanziellem Gebiet, die eine Wiedereinführung neuer Staatsleistungen verbot, bestand durchaus eine Mehrheit in der Nationalversammlung. Wenn die beiden Parteien, die für alle Zukunft die Aufwendung öffentlicher Mittel für religiöse Ziele unterbinden wollten, im Besitze der Mehrheit in der Nationalversammlung der Formulierung des Art. 138 I WRV zustimmten, so wird ihr Verhalten nur dann verständlich, wenn Ablösung im Sinne des Art. 138 I WRV endgültige Trennung bedeutet: Nur in diesem Verständnis entspräche der Inhalt des Art. 138 I WRV auch ihren Forderungen.
Daß dem Ablösungsbegriff in Art. 1381 WRV, dessen subjektiv gewollter Inhalt bisher nur mittelbar durch einen Rückschluß aus mehrheitlich verfolgten Zielen festgestellt werden konnte, wirklich nach Willen des Verfassunggebers diese Bedeutung zukommen sollte, läßt sich auch unmittelbar den Äußerungen von Abgeordneten verschiedenster Parteien entnehmen: Weil der Staat „bei der Forderung der Trennung (erg. von Staat und Kirche) nur ein praktisches Interesse haben (kann), nämlich das finanzielle“ , wird die Ablösung empfohlen. „Diese Konsequenz … ist die, daß der Staat in Zukunft, nachdem einmal Inventur gemacht und die Ablösung erfolgt ist, keine Mittel mehr für die Kir-chen aufzuwenden hat .“ Auch der Zentrumsabgeordnete Mausbach als Berichterstatter des Verfassungsausschusses sah Art. 1381 WRV „als Folgerung des Trennungsgedankens in seiner gemäßigten relativen Form“ . Polemisch formulierte der Abgeordnete Naumann das Ziel des Art. 138 I WRV : „Die Kirche muß sagen können ,Wir wollen uns unsere Konsistorialräte selbst bezahlen‘.“
In den übereinstimmenden Äußerungen verschiedener Abgeordneter, den in dieser Frage klaren Mehrheitsverhältnissen, der Kompromißbereitschaft der SPD, den Kirchen trotz der finanziellen Trennung die Leistungsfähigkeit zu erhalten, wie des Zentrums, Prinzipien für die Erhaltung der Kirchen zu opfern, offenbart sich die klare politische Entscheidung des Verfassunggebers zugunsten einer völligen und endgültigen Abschaffung der Staatsleistungen. Offen ist allerdings, ob sich dieser aus der Entstehungsgeschichte nachweisbare Wille auch in der Verfassung verobjektiviert, ob „Ablösung“ diese endgültige Abschaffung der Staatsleistungen beinhaltet.

2. Ablösung als Institutsliquidation
Im bürgerlichen Recht hindert nichts den Eigentümer eines Grundstückes, jederzeit neue Rentenschulden zu begründen. Der Ablösungsvorbehalt des § 1199 BGB gibt diesem das Recht, die — regelmäßig — ewige Rentenschuld durch eine einzige Leistung zum Erlöschen zu bringen, untersagt jedoch nicht die Neubegründung von Rentenschulden. Ablösung ist hier Leistung an Erfüllungsstatt . Gesetzlicher Ablösungsvorbehalt und die Ablösung einzelner Rentenschulden stellen die Rechtskategorie „Rentenschuld“ grundsätzlich nicht in Frage, setzen ihre Existenz vielmehr weiterhin voraus.
Dagegen ist im öffentlichen Recht Ablösung anderes als bloß „Leistung an Erfüllungsstatt“. Ablösbar ist hier nicht nur die konkrete individuelle Rechtsposition wie im bürgerlichen Recht. Vielmehr werden die Reallasten, die Zwangs- und Bannrechte, bisher unablösbare, ewige Rechte, ablösbar gemacht: Die Gesetze unterwerfen ganze Kategorien von Rechtsinstitutionen dem Gesamtvorgang Ablösung .
Ablösbare Rechtsverhältnisse dürfen nicht wieder neubegründet werden: § 10 GewO verbietet die Neubegründung der für ablösbar erklärten Zwangs- und Bannrechte, § 91 II Ablösungsgesetz die der ablösbaren Reallasten . Darüber hinaus erstreckt sich der Ablösungsakt immer auf alle Reallasten, die zugunsten oder zu Lasten des jeweiligen Antragstellers bestanden.
Die Gesetze bringen also deutlich zum Ausdruck, daß sie die abzulösenden Rechte — Reallasten und Zwangs- und Bannrechte — ein für alle Mal abschaffen wollen: Bisher unablösbare Rechte sind kraft Gesetzes ablösbar und sollen aufgehoben werden, neue dürfen nicht begründet werden.
Erst die Verbindung von Ablösbarkeit kraft Gesetzes, dem konkreten Ablösungsakt (Ablösung im engeren Sinne) und das gesetzliche Verbot, ablösbare Rechtsverhältnisse neu zu begründen, offenbart die Bedeutung des Gesamtvorganges Ablösung und den eigentlichen Inhalt der Ablösung (im weiteren Sinne), wie er durch die gesetzlichen Vorschriften konkretisiert wird. Ablösbarkeit einerseits, Verbot andererseits führen notwendigerweise zu einem allmählichen „Aussterben“ der ablösbaren Rechtsverhältnisse. Ablösung wird damit „Abolition ganzer Kategorien bestehender Rechte“ .
Das Tempo der Ablösung (im weiteren Sinne) kann der Staat allerdings beliebig steuern: Er kann die Ablösung selbst kraft Gesetzes vornehmen — Ablösung im engeren Sinne und im weiteren Sinne sind hier identisch. Er kann weiter die Ablösung im engeren Sinne zwingend vorschreiben, Ausschlußfristen festsetzen und nach deren Ablauf die Rechte automatisch erlöschen lassen oder durch niedrige Kapitalisierungsfaktoren oder/und günstige Finanzierungsmöglichkeiten für den Verpflichteten einen Anreiz zur Ablösung im engeren Sinne schaffen.
Ebenso wie die Enteignung ist die Ablösung zwar individuelle Wertgarantie des gegenwärtigen Besitzstandes; aber im Gegensatz zu jener, die Rechtsstellungen einzelner betrifft, das Eigentum als Institution jedoch unberührt läßt, ja es geradezu voraussetzt, ist Ablösung, die notwendig einmaliger Akt ist, vollständige und endgültige Abschaffung einer Rechtsinstitution. Sie ist reformierender (gesetzlicher) Eingriff in Rechte, deren Fortbestand der — aus politischen, wirtschaftlichen, rechtlichen oder aus sonstigen Gründen dringend erforderlichen oder wenigstens als notwendig empfundenen  — Modernisierung eines Rechtsgebietes im Wege steht . Weil Ablösung diese Rechte voll¬ständig und endgültig abschafft, ist sie — im Gegensatz zur Institutsgarantie des Art. 14 GG — Institutsliquidation.

 

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