RMI: Klärungen zu Staatsleistungen

Der Reichsminister des Innern erläutert Zweifelsfragen hinsichtlich der Auslegung der Artikel 138 und 173 der Reichsverfassung. Aus  Haushaltsgesetzen entsteht (1) kein Rechtsanspruch der Kirchen, (2) Basis der Ablösung sind die Geldzahlungen im August 1919 (Inkrafttreten der Reichsverfassung), es sei denn der Staat finanziert den vollständigen Aufwand der Kirchen und (3) gibt es keinen Grund Geldbeträge für die Ablösung zu erhöhen.
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Abschrift
Der Reichsminister des Innern                                        Berlin, den 14. Juni 1921.
I A 4606

Auf das Schreiben vom 6. April 1921
– Nr. 4152 –

Zu den mir vorgelegten Zweifelsfragen hinsichtlich
der Auslegung der Artikel 138 und 173 der Reichsverfassung
möchte ich mich wie folgt äussern:
1.    Unter Gesetz im Sinne des Artikel 138 dürfte jede Rechtsnorm zu verstehen sein. Ablösungspflichtig sind nur solche Staatsleistungen, hinsichtlich deren eine Leistungspflicht des Staates und ein Rechtsanspruch der Religionsgesellschaft
oder eines religionsgesellschaftlichen Organs besteht. Es muss sich also um ein Gläubiger- und Schuldverhältnis handeln. (Schmitt, Die Ablösung der Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften, § 23 Abs. 1 und 2). Dadurch, daß durch ein Haushalts- oder Finanzgesetz die Staatsregierung ermächtigt wird, bis zu einer bestimmten Summe Ausgaben für kirchliche Zwecke zu bestreiten, entsteht noch kein Rechtsanspruch der Religionsgesellschaften auf Zuwendung dieser Mittel. Das Haushalts oder Finanzgesetz hat andere Zwecke als den, neue Rechtsansprüche Dritter zu begründen. Die Ablösung ergreift also nur die Pflichtleistungen des Staates.

2. Hinsichtlich des Maßes der Ablösung werden sich die Reichsgrundsätze voraussichtlich auf die Festlegung des Satzes beschränken, daß die Ablösung einen angemessenen Ausgleich für die bisherigen Staatsleitungen gewähren muß. Im Rahmen dieses Grundsatzes hat die Landesgesetzgebung einen weitgehenden Spielraum, die Ablösung unter Berücksichtigung der geschichtlich gewordenen Verhältnisse des einzelnen Landes durchzuführen.

An sämtliche Landesregierungen (außer Württemberg) für Preussen: An den Herrn Ministerpräsidenten und sämtliche Herrn Staatsminister, die Mitglieder des II. und VIII. Ausschuss des Reichsrats, den Herrn Reichsminister der Justiz. An das Württembergische Ministerium des Kirchen- und Schulwesens in Stuttgart.

Abzulösen sind diejenigen Verpflichtungen des Staates, die beim Inkrafttreten der Reichsverfassung bestanden haben. Richtet sich die Verpflichtung auf  Zahlung festbestimmter Geldleistungen, so ist hiernach bei der Ablösung der  Geldbetrag zu Grunde zu legen, zu dessen Leistung der Staat beim Inkrafttreten der Reichsverfassung verpflichtet war. Bei Ablösung von Naturalleistungen dürfte im allgemeinen der Geldwert im Zeitpunkt der Ablösung maßgebend sein. Ein Staat, der zur vollständigen Deckung des kirchlichen Aufwandes verpflichtet ist und jeweils für eine den Zeitverhältnissen liegende Steigerung der  Kirchenbedürfnisse aufzu kommen hat, wird wohl auch zur Befriedigung der nach dem 14. August 1919 aufgetretenen kirchlichen Bedürfnisse bis zu einer Ablösung verpflichtet sein. (vgl. auch Entscheidungen des Reichsgerichts in Zivilsachen Bd. 97 S. 170 ff.)

3. Soweit der Umfang der Leistungspflicht im freien Ermessen des Staates stehen sollte, verpflichtet Artikel 173 der Reichsverfassung den Staat nicht zu einer Erhöhung derLeistungen nach dem Stand vom 14. August 1919. Die Forderung des Deutschen Evangelischen Kirchenausschusses, daß in den Ländern, in denen Kirchengut säkularisiert worden ist, keinerlei freiwillige Staatsleistungen anerkannt werden können, halte auch ich für zu weitgehend und nicht in Einklang stehend mit den Bestimmungen des Artikel 138.

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Berlin, den 14. Juni 1921
Abschrift beehre ich mich zur gefälligen Kenntnisnahme zu übersenden.

(persönliche Unterschrift)
Dr. Gradnauer